Geister der Vergangenheit - sie lassen dich nie los |
Spiekeroog 21. September 2011 -
gegen 18 Uhr
Ausschnitt:
Sie hörte, wie er sagte: „Ich zähle jetzt …“
Seine Stimme schien ihr wie ein Echo, dass von weit her kam. „Eins, zwei, drei
…“ Lili rührte sich nicht, obwohl in ihr eine Stimme schrie: Lauf weg, schnell!
Sie fühlte seine Hand, seinen schmerzhaften
und festen Griff im Genick. Schon fühlte sie sein Gesicht neben dem ihren. Er
küsste sie auf die Wange, weil Lili sofort den Kopf zur Seite drehte. „Ich will
nicht geküsst werden. Schon gar nicht von dir.“ Sie fand, dass von dem Mann ein
eigenartiger Geruch ausging. Sie fand, dass er nach Tier roch. Lili umwehte ein leichter Geruch, wie nach einem Tier.
Er lächelte, stemmte fest seine Hand gegen
ihre Halswirbel und schob Lili vorwärts.
Sie stolperte.
„Du hast doch ein Handy?“, fragte er.
Lili nickte.
„Zeig mal, welches Modell hast du?“
Lili reagierte nicht.
„Nun zeig’s mir doch!“
Mit zögernder Bewegung griff sie in ihre
Jackentasche.
„Nun?“
Sie zog es heraus, hielt es in der Hand. „Ich
muss sowieso telefonieren.“
„Musst du nicht.“ Er griff nach dem Handy und
ehe Lili passend reagieren konnte, hatte er es schon. „Das bleibt bei mir.
Nachher – ja, nachher bekommst du es zurück. Und jetzt machen wir einen kleinen
Spaziergang. In der letzten Zeit ist ja einiges mit uns schief gelaufen. Nun Guck
nicht gleich so erschrocken, och je, richtig ängstlich siehst du aus. Warum
denn das? Wir werden uns nur ein wenig unterhalten. Und jetzt sieh mich an. Vier,
fünf, sechs, sieben.“ Bei zehn hörte er auf zu zählen. Lili begann, sich schwer
zu fühlen. Und obwohl sie im tiefsten Innern wusste, dass diese Begegnung nicht
gut für sie war, dass sie ganz schnell wegrennen müsste, entspannten sich ihre
Muskeln.
„Weitergehen. Aber zügig. Gut siehst du aus.
Schlank. Schlanker denn je. Eigentlich bist du ja inzwischen zu alt für die
Liebe. Achtunddreißig bist du inzwischen. Aber egal, hier merkt das keiner.
Weiter!“ Er stieß sie an. „Ich will dich wiederhaben. Und du wirst mir erneut
gehorchen. Erinnerst du dich, wie es damals war, du kleine geile Sau.“
Lili fühlte sich benommen.
„Dreh deinen Kopf zu mir. Was siehst du?“
Sie antwortete nicht.
„Freut mich, dich so hübsch zu sehen. Junge
Mütter haben ja einen besonderen Hormonüberschuss und sehen so blühend und
lecker aus … Wie du. Da kriege ich wirklich wieder Lust auf dich. Mit dir war
es stets eine besondere Freude. Weißt du noch?“
Lili versuchte mit Ziehen und Zerren, ihren
Kopf aus dem Klammergriff zu lösen.
Da griff er noch
fester zu, hob Lilis Haut im Nacken an, als wollte er einen Welpen hochziehen. Er
drückte seinen Mund gegen ihr Ohr und sang leise: „Ich hab mir mein Kindel fein
schlafen gelegt,/ Ich hab mir’s mit roten Rosen besteckt,/ Mit roten Rosen, mit
weißem Klee,/ Das Kindel soll schlafen bis morgen früh.
Ich hör mer mai
Madle schier schlofe gelät,/ Ich hör mersch mit ruthen Riisl’n besträt,/ Mit
ruthen Riisl'n, mit grünem Klee: Soor mer, mai Mädle, was thut der denn weh?“
„Hör auf.“ Lili zerrte, und zog ihren Kopf
nach vorn.
Der Mann ließ sie nicht los. „Wenn du weiter
rumhampelst, tut’s gleich richtig weh. Ich will mit dir reden, nur deshalb bin
ich hier. Zuck nicht rum. Deine Nerven, Lili, du weißt, die sind nicht die
besten! Und du trittst also wieder als Clown auf. Ich habe euer Plakat gesehen.
Ach, liebste Lili, früher hättest du dich um jedes Wort von mir gerissen, meine
Schöne, meine Süße, und jetzt bist du auch noch Mutter … Der glückliche Vater scheint
in meinem Alter zu sein, wie ich gestern gesehen habe?“ Er schob sie vorwärts.
„Wie kommst du darauf? Außerdem ginge das
dich überhaupt nichts an.“ Sie begann zu lachen und sie konnte nicht aufhören
damit. „Aber ich bin keine Mutter. Leider.“
„Ich weiß, was ich weiß. Wie oft hast du
während unserer Zeit manches abgestritten. Wie schamlos bist du über unsere
Liebesgeschichte getrampelt. Wie sehr ich gelitten habe und noch immer leide –
danach fragt die Lili Stern nicht. Bist du davon ausgegangen, dass ich dein
plötzliches Abtauchen stillschweigend billigte? Wie lange waren wir zusammen?
Wie lange?“
Eine Möwe schoss vom Himmel, flog vor sein
Gesicht, stieß den harten Schnabel gegen seine Wange, flatterte im Stand, und
Augen, kalt und blau, mit kleinen Pupillen, starrten einander an. „Hat dich
Lili etwas auch so dressiert wie sie es mit ihren Seidenhühnern getan hat? Ach
ja - Clown Lili und Huhn Berta. Beim Zirkus und zur See. Komm her, schöner
Vogel, komm auf meine Hand.“ Er streckte den Arm aus, öffnete die Hand, hielt
sie der Möwe hin.
Die Schwingen verdeckten seine Augen und der
Schnabel hackte in seine Handinnenfläche, wahrscheinlich in der Erwartung,
Essbares vorzufinden.
Der Mann lockerte seinen Griff. Sofort nutzte
Lili den Moment aus und rannte weg. Lief über den Gartenweg und bog in den
Kurpark ein. Er hechtete hinterher, erreichte sie schnell, packte ihren Arm,
und drehte ihn fest auf ihren Rücken. Dabei nickte er freundlich zu einem Mann
herüber, der vorbeikam. Lili stöhnte. „Du irrst. Ich habe kein Kind. Hör auf
mit deiner Eifersucht und lass auch meinen Arm los.“
„Wann bist du von mir weggegangen? Drei Jahre
sind es her. Hast dir schnell einen neuen Mann genommen, sicher mit deinem
Clownslächeln, Clowns haben ja viele Gesichter. Mir hast du nie dein wahres
gezeigt. Du gingst an einem Mittwoch und du wirst an einem Mittwoch wieder
gehen.“
Heute ist Mittwoch,
dachte Lili beklommen.
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